„die damalige Capelle, die deßwegen vorzüglich war und nicht überall ihresgleichen finden ließ, weil ihre Glieder aus lauter ausgesuchten, jungen, fleißigen, conduisirten und wohl zusammen gespielten Leuten bestand, deren einjeder, von dem wahren Esprit d’Orchestre beseelt, ohne alles privat Intereße stets den Beyfall des Ganzen vor Augen hatte und zur Vollkommenheit deßselben das Seinige nach Vermögen beyzutragen suchte, dahero aber auch manche weit zahlreichere, kostbarer besoldete weit hintersich lies, wenn sie sich in Bewegung setzte und höhrbar wurde. Aus diesem Grunde mußte sie dem wahren Kenner umso schätzbarer seyn, weil es gemeiniglich sehr schwer hält, einer ganzen Capelle den wahren Esprit d’Orchestre einzuflösen.“

Johann Wilhelm Hertel, 1783

 

 Rosettis Töchter

 

 

 

 „den[n] es [ist] eine alte Sängerin hier wann diese Stirbt so wird die Rosina ganz gewis angaschiert, die Herzogin läßt Sie hier dessenwegen immer noch bey einer Sängerin fort lernen, damit sie nicht aus der übung kömmt, wenn dieß geschieht werd ich freilich wegreisen können.“ schrieb Rosina Rosetti am 4. Dezember 1792 aus Ludwigslust an einen Schwager in Wallerstein.  Es regnete und Prinzessin Charlotte Friederike feierte ihren 8. Geburtstag. Sie lernte Klavierspiel bei der Frau Kapellmeisterin(witwe) Sophie Westenholtz und ahnte nichts von ihrem späteren aufregenden Leben. Mit 21 Jahren wurde sie in Ludwigslust mit dem Erbprinzen Christian von Dänemark verheiratet, was musikalisch etwa so klang: [1806] „Den 21.Juny, Concert auf der Gallerie, im goldenen Saal, zur Vermählung des Prinzen Cristian von Dänemark mit Prinzeß Charlotte. Cantate zur Vermählung, v. Massonneau. Allegro aus Mozarts Sinfonie…Oboé Concert, comp. u. gespielt v. Hr. Braun. Arie v. Winter, gesung.v. Mlle. Rosetti…“ Die Ehe hielt nur einen Sohn und knapp vier Jahre, denn da war dieser gutaussehende Geiger. Charlotte Friederike wurde verbannt, zuletzt nach Italien, wo sie zum katholischen Glauben konvertierte und nach schwerer Krankheit im Sommer 1840 in Rom starb. Den entgegen gesetzten Weg hatte Eligio Celestino genommen, geboren in Rom, 1739, und gestorben in Ludwigslust im Januar 1812. Dazwischen lag eine große Karriere als Geiger, die ihren Höhepunkt mit der Leitung der Hofkapelle in Ludwigslust fand. Nach Hofkapellmeister Antonio Rosettis Tod Ende Juni 1792 vertraute Herzog Friedrich Franz ganz auf seinen Konzertmeister Celestino, der auch große Fähigkeiten in der Ensembleleitung hatte, wie der Weimaraner Hofkapellmeister Ernst Wilhelm Wolf von seiner kleinen musikalischen Reise im Sommer 1782 erzählt [seine Gattin Marie Karoline war die Tochter Franz Bendas], als er u.a. seine Cousine Primadonna Felicitas Benda, die Frau des Ludwigsluster Hofkomponisten Friedrich Ludwig Benda und später von ihm wegen seines schlimmen Lebenswandels, sagt sie,  geschieden, Unzucht, Trunksucht, Ehebruch, Verschwendung, und heiratet keinen Monat nach der Scheidung den Flötisten Samuel Heine, 7 Jahre jünger als sie, in Ludwigslust besuchte: „[… ] daß ich an dem Herrn Konzertmeister Celestino einen Mann gefunden, der mit gründlicher Einsicht in die Musik einen sehr guten Karakter verbindet. Nach einem einzigen Blikke in die Partitur, beurtheilet er das Zeitmaaß eines jeden satzes, und fehlt nicht, es in gehörigem Maaße anzugeben;  er spielt übrigens mit grosser Fertigkeit, mit Präzision, und in allen Tonarten mit der reinsten Intonazion,…“ Zwei Jahre später schreibt Carl Friedrich Cramer in seinem „Magazin der Musik“ über Celestinos Gattin, die englische Sopranistin und Hofsängerin Sarah Stanton, „Seine Frau singt mit Geschmack“. Und wieder 8 Jahre später und im Winter wartet die Frau Kapellmeisterin(witwe) Rosina Rosetti auf den Tod einer Sängerin.

 

Mit der „alten Sängerin“ kann nur Magdalena Reinert, geborene Urspringer, gemeint sein, echte Primadonna, damals 55 Jahre alt und seit 22 Jahren im Dienst der Mecklenburg-Schwerinschen Hofkapelle zu Ludwigslust. Sie schleuderte dem ersten Geiger Leopold August Abel schon mal „Ich bitte mir aus, dass sie so spielen, wie ich singe“ entgegen, worauf Abel antwortete: „Nein, sondern so wie es der Herr Capellmeister angiebt“. Der, Carl Westenholtz, musste vermitteln und die entstandene musikalische Unordnung vor dem Herzog verantworten, schließlich hatte Frau Reinert ein vorgeschriebenes „Andante di molto“ als „traurig“ und nach Meinung des Kapellmeisters „übertrieben langsam“ gedeutet und gesungen, während Westenholtz und Abel das Ganze im Tempo „etwas munter“ sahen und das Orchester dementsprechend anleiteten. „Durchl. Herzog! nach meiner dreißigjährigen Erfahrung in der Musik hat nun die Reinertin hierinne Unrecht, und das Orchester hat sein devoir  gethan!“ schrieb Westenholtz entschuldigend an Herzog Friedrich am Samstag vor dem 4. Advent 1774. Ein Jahr zuvor noch konnte man in „Carl Burney’s […] Tagebuch seiner Musikalischen Reisen. Dritter Band“ auf Seite 282 lesen: „Madame Reinert, eine Sopranistinn, aus Mannheim gebürtig, Ihr Ehemann, ein vorzüglich guter Waldhornist fürs Cantabile, hat sie einige Jahre nach Italien geführt, woselbst sie ihren Geschmack und Vortrag sehr verfeinert hat. Ihre Stimme ist weder sehr stark noch von weitem Umfange, aber sehr rührend, und ihre Intonation ist vollkommen. Ihr Adagio singt sie meisterhaft und weiß sie einen ungemein glücklichen Gebrauch von Tempo rubato zu machen.“ Beim Geburtsort Mannheim irrte Burney. Magdalena Reinert stammte aus Mainz. Ihr Vater war der kurfürstliche Kammerdiener Franz Urspringer, ihre Mutter die Erste Hofsängerin Margaretha Urspringerin. Sogar Leopold Mozart weist seinen Sohn Wolfgang auf die Familie der begabten Sängerinnen hin, denn auch die Schwester Magdalenas, Franziska Urspingerin wurde eine berühmte Sängerin. Doch wieder zurück nach vorn ins Jahr 1792, denn Magdalena Reinert lebt immer noch.  Die Hofsängerinnen rund um sie her sind junge Damen zwischen 18 und 35. Die Älteste, Madame Felicitas Heine, geborene Ritz, geschiedene Benda, kommt wie Magdalena Reinert und natürlich auch Rosettis Witwe Rosina aus Süddeutschland. Sie sind katholische Glaubensschwestern in der mecklenburgischen Diaspora und machen sich für den Bau einer katholischen Kirche in Ludwigslust stark. Die anderen Hofsängerinnen sind die Altistinnen Charlotte Zinck (32), Tochter des Hofsängers und Kabinettssekretär Jacob Ehrenreich Nusbaum und Gattin des Geigers und Komponisten Benedikt Friedrich Zinck; und Maria Johanna Clara Freese (22, sagt sie selbst, aber, dürfen Diven sich nicht mindestens fünf Jahre jünger denken? so jung und schon Witwe des Fagottisten Franz Anton Pfeiffer und Mutter einer fünfjährigen Tochter und wiederverheiratet mit dem Hof- und Regimentschirurgen Carl Jacob Freese; sie hatten am 4.9.1790 einen gemeinsamen Sohn bekommen, dessen Pate „Capellmeister Anthon Rosetti, kath. Religion“ wurde, obwohl der doch am 30. Juni verstorben war? Der Sohn machte eine große mecklenburgische Karriere als Hofchirurg, Leibarzt des Großherzogs und Geh. Hofrat; seine Mutter heiratete 1808, ein Jahr nach dem Tod ihres zweiten Gatten, den 13 Jahre jüngeren Arzt Johann Ludwig Dietrich Christian Klooss, der sich aber nach gut zehnjähriger Ehe scheiden ließ; ein Hofsängerinnenschicksal und rechnen wir nach: bei ihrem Tod 1856 in Ludwigslust war sie 92 Jahre alt, demzufolge wäre sie 1764 geboren worden, was schon viel logischer klingt, wenn da nicht der enorme Altersunterschied zu ihrem dritten und letzten Gatten von nunmehr 19 Jahren wäre); und im Sopran: Louise Friederike Ulrike Braun (27), Tochter des ehemaligen Schweriner Hofkapellmeisters Adolph Carl Kuntzen und Gattin des Oboenvirtuosen Johann Friedrich Braun;  Caroline Amalie Steinhardt, Musikerkind aus Weimar, heiratete Anfang September 1799 den Hauptmann Jacques Auguste St. Germain de Colleville und lebte später in Frankreich; Franziska Herbst (18), auch sie wie Felicitas Heine eine Würzburgerin, heiratete wenig später den Postmeister Friedrich Ludwig Erhardt und blieb bis zu ihrer Pensionierung 1821 Hofsängerin; und - die andere Frau Kapellmeisterin: Sophie Westenholtz, etwa 3 Jahre jünger als Rosina Rosetti. Sie war die Witwe des Hofkapellmeisters Carl Westenholtz und der hatte in seiner 40jährigen Kapellgeschichte als Kapellknabe und Schüler des damaligen Hofkapellmeisters Adolph Carl Kuntzen und des österreichischen Solocellisten Franz Xaver Woschitka, als Tenor und Cellist, als Sänger-Konzertmeister und seit Dezember 1770 Hofkapellmeister natürlich wesentlich tiefere Spuren im mecklenburgischen Musikleben hinterlassen, als der nur 3 Jahre in Ludwigslust wirkende Rosetti. Aber Sophie stand ihrem Gatten nicht nach, sie war als Künstlerin deutschlandweit geachtet. Sie hatte zunächst bei ihrem Organisten-Vater die Grundlagen des Cembalospiels erlernt. Dann „…ward ihm [Johann Wilhelm Hertel] von seiner Durchlauchtigsten Herrschaft der Unterricht der Demoiselle Fritschern aus Neubrandenburg im Singen und Clavier aufgetragen. Er musste sie zu sich ins Haus nehmen u. sie machte in einigen Jahren in beyden solche Fortschritte, daß sie der Herr Capell-Meister Westenholz zu Ludewigslust zur Gattin nahm u. sie bald darauf zur Sängerin angestellt wurde und noch rühmlichst beflißen ist, sich immer vollkommener zumachen.“ wie Hertel in seiner Autobiographie erzählt. Musikalische Höchstleistung muss täglich erarbeitet werden. Wenn Sophie Westenholtz z. Bsp. ein Mozart-Klavierkonzert spielte, musste sie nicht nur ihren eigenen Part technisch und musikalisch beherrschen, sie musste auch die Orchesterstimmen kennen, sie musste sich in der Kunst der Verzierungen auskennen, ohne die damals kein Stück interpretieret werden konnte. Und wenn man bedenkt, dass sie auch eine hervorragende Sängerin, geachtete Komponistin und eine berühmte Glasharmonikaspielerin war, lässt sich ein ungefähres Arbeitspensum erahnen. 

 

Die beiden Kapellmeisterwitwen könnten wohl im Dezember 1792 nicht verschiedener gewesen sein: Hier die mecklenburgische Künstlerin mit ihren 7 Kindern, angefangen mit dem 13jährigen Friedrich, gefolgt vom 12jährigen Gabriel, Louisa ist 11, Johanna 10, Henrietta 9, Wilhelmina 6, und Carl, der jüngste 4. Carolina Friederika Concordia war wenige Monate nach ihrem Vater Ende April 1789 im Alter von 4 Jahren an Abzehrung gestorben ; und da die schwäbische Gastwirtstochter mit ihren 3 Töchtern, der 15jährigen Rosina, der 13jährigen Antonia und der 2jährigen Amalia. Sie hing völlig in der Luft, ihr Gatte war gestorben, sie hatte keinen Beruf, war erst vor einem halben Jahr in Ludwigslust angekommen, vielleicht sogar erst nach dem Tod Rosettis. Zwar kümmerte sich die Herzogsfamilie um Rosina Rosetti und ihre Töchter, aber wie sollte sie heimisch werden? Oder doch zurück nach Wallerstein ziehen? Wahrscheinlich wohnten beide Kapellmeisterfamilien unter einem Dach. Die Karrieren der Westenholtz-Kinder kann ich hier nur anreißen. Friedrich und Gabriel, beide Schüler des berühmten Oboisten der Hofkapelle Johann Friedrich Braun, wurden hochgeschätzte Bläser in der Königl. Preußischen Hofkapelle zu Berlin. Carl studierte beim Konzertmeister Massonneau und wurde Geiger der Hofkapelle zu Ludwigslust und ständiger Kammermusikpartner seiner Mutter. Die Töchter Johanna und Wilhelmina sangen in der Hofkapelle mit, waren aber keine fest engagierten Hofsängerinnen. Auch andere junge Mädchen und Frauen sangen mit, man kann ihre Namen auf den Stimmen der Kantaten und Messen lesen: eine Tochter des Kammerdieners Johann Daniel Kreichelt; Charlotte Abel, ihr Vater, August Abel,  und ihr Großvater, Leopold August Abel, waren bedeutende Geiger der Hofkapelle; Christiane Cornelius, jüngste Tochter des Mundschenks und Postmeisters Carl Christian Cornelius; die Tochter des irischen Philosophiedoktors Carl Scott; Caroline Zinck, jüngste Tochter der Hofsängerin Charlotte Zinck, geborene Nusbaum und ihres Gatten, des Geigers Hofmusicus Benedikt Zinck, Altistin wie ihre Mutter. Aber auch die Herzoginnen und die Prinzessinnen ließen sich nicht nehmen, im Chor und manchmal sogar solistisch aufzutreten. Musikgebildet waren alle. Johanna Westenholtz sang Sopran und hatte 1816 den französischen Witwer Alexandre Stievenard geheiratet, Geiger der Hofkapelle und Sprachlehrer am Hof. Die Altistin Wilhelmine Westenholtz war Gattin des Leutnants in englischen Diensten Alexander Kaula. 1814 wurde Tochter Bertha geboren, aber zu deren Konfirmation 1830 lebte der Vater schon nicht mehr. Wilhelmine starb 1861 in Ludwigslust. Ihr Vater Carl Westenholtz wurde im Sterberegister eingetragen, die Mutter war angeblich nicht mehr bekannt. Sie, Sophie Westenholtz, starb 1838 in Ludwigslust.

 

Der Musikschriftsteller Gustav Schilling schrieb in Band 6 seines Universal-Lexikons der Tonkunst 1838, Sophie Westenholtz wäre „nicht allein eine gute Sängerin, sondern auch vorzügliche Clavier und Harmonikaspielerin, die, als Rosetti 1792 starb, sogar in den Hofconcerten die Stelle eines Accompagnisten versah. Capellmeister Wolf dedicirte ihr deshalb auch 6 Claviersonaten.“ Vermutlich hatte Wolf Carl und Sophie Westenholtz bei seinem Ludwigsluster Besuch 1782 kennen und schätzen gelernt, er wurde 1786 Pate von Wilhelmine Westenholtz.

 

Und Sophie verkehrte bei Konzertreisen in den ersten Musiker-Gesellschaften und Metropolen: z.Bsp. 1791 in Berlin und nochmal Schilling 1835, Artikel (Ignaz von) Beecke „…und eine durchgehends concertirende Sonate für drei Pianoforte, welche B.[eeke] in dem nähmlichen Concerte [1791 von der Königl. Preuß. Hofkapelle unter Leitung Beeckes] mit Madame Westenholz (zweite Frau des Capellmeisters,…) und dem Capellmeister Kunzen zusammen zum größten Vergnügen des Königs vortrug,…“ Diese Sonate wird heute in der Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek aufbewahrt. Auch über den „Capellmeister Kunzen“ sollten wir reden, da wir schon von seiner Schwester, der Hofsängerin Luise Friederike Ulrike Braun gehört haben. Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen, genannt Fritz, Sohn des ehemaligen Schweriner Hofkapellmeisters Adolph Carl Kuntzen, 1761 in Lübeck geboren, verdankt er seine Vornamen seinen Taufpaten: Friedrich für Herzog Friedrich, Ludwig für dessen Bruder Prinz Ludwig, den Vater des nachmaligen Herzogs und späteren ersten Großherzogs Friedrich Franz I., und Aemilius für beider herrschaftlicher Schwester, ebenfalls musikalisch sehr begabt, Amalie. 1783 war er gemeinsam mit seinem Freund Carl Friedrich Cramer zu Gast in Ludwigslust und lernt Felicitas Benda-Heine kennen, was Cramer in seinem Tagebuch so beschreibt:   „Das Weib gefällt mir – […] Entsezlich vif, lebendig: daher das, was man ihre Grimasse nennt. Kurz, man wird da in einer halben Stunde bekannt wie nach 10 Jahren.“ Vielleicht war es die erste Primadonna, die der 20jährige Kunzen traf: „sie war krank, wollte wohl krank seyn. Davon scheint sie überhaupt große freundin zu seyn. Ihre Launen entwickeln sich leicht so wie man sie mehr sieht. Sehr unterhaltend übrigens. Und sehr offenherzig, voll Geständnissen eigener Thorheit.[…] Und o Himmel! Wie sang sie. Dagegen ist doch warlich alles von Stimme, was ich oder Du sonst kennen, Kinderey. Sie sang heute hauptsächlich 3 Arien. Eine von Reichard, die er für die Mara gemacht, nur die schönsten halsbrechenden Passagen – und ein Ton der Stimme, eine Leichtigkeit, ein Herabstürzen der Colloraturen! Und alles mit einer Mine als ob sie lachte [...] Kunzen war außer sich; […] Bald hätte ich die Adagio-arie vergessen. (Lisetta mia), in der sie so viel von ihrem eigenen hinzuthat, daß sie bey nahe die 2te Componistin des Stücks ward, wie ich ihr auch sagte.“

 

Wieder im Jahr 1792: die 15jährige Rosina Rosetti hätte so jung nie eine feste Anstellung als Hofsängerin bekommen, gleich, wie lange Frau Reinert noch lebte. Nach 1800 zog diese mit ihrem Gatten, dem ersten Hornisten Carl Reinert, nach Schwerin, erzählt Clemens Meyer. Der Staatskalender führt ihn nur noch bis 1802 und der Staatskalender listet immer die Menschen und Ereignisse des jeweils vergangenen Jahres auf. Carl Reinert starb am 19. Februar 1801 in Schwerin. Im Sterbeeintrag der katholischen Kirche steht: „Herzoglicher Waldhornist…gebürtig aus Breslau in Schlesien, 66 Jahre und 5 Monate alt.“ Und ergänzend sei geschrieben:  nach 36 Jahren und fast 3 Monaten Ehe mit Magdalena Urspringerin. Sie hatten am 21. November 1764 in der Kirche St. Martin in Worms geheiratet. Nicht mehr erleben konnte Carl Reinert den Bau der katholischen Kirche in Ludwigslust, für den sich die katholischen Musiker der Hofkapelle so eingesetzt hatten, allen voran: Magdalena Reinert. Sie starb im Alter von 73 Jahren am 1. April 1810 in Schwerin, 4 Monate nach der Einweihung der katholischen Kirche zu Ludwigslust. Solange sollten die Rosetti-Töchter nicht warten müssen, denn vielleicht kam das große Glück ja ganz anders? Zwei junge Menschen, die sich bestimmt schon lange kannten: der Sohn des berühmten Hofsängers Joachim Matthias Ludwig Rüst und die älteste Tochter des Hofkapellmeisters Antonio Rosetti. Nach dem Studium des jungen Mannes in Göttingen sahen sie sich wieder und verliebten sich. Er war inzwischen Doktor der Medizin und sollte nach 3 Jahren als praktischer Arzt in Ludwigslust seine Lebensstellung ab 1796 in Grabow finden. Am 14. Oktober 1796 heiraten Rosina Theresia Rosetti, 19 Jahre jung, und Dr. Carl Johann Friedrich Rüst, 24 Jahre jung, in Grabow. Standesgemäß wird im August 1797 ihr erster Sohn geboren. Das war mit Rosinas Geburt etwas anders. Ihre Eltern Antonio Rosetti und  Rosina Maria Franziska Elisabeth Neher heirateten am 28. Januar 1777 und überraschend drei Monate später wurde Rosina geboren. Und nun ist die Frau Kapellmeisterin Rosetti 20 Jahre älter und Patin ihres ersten Enkelkinds. Dieser Georg Friedrich Franz Rüst wird viele Jahre danach seine Ludwigsluster Cousine Wilhelmine Charlotte Louise Prosch heiraten, aber dazu später, denn zuvor bekommen Carl und Rosine Rüst noch 8 weitere Kinder: 6 Jungen und zwei Mädchen. Ein Sohn, und er trägt die gleichen Namen wie der Vater, tritt in dessen Fußstapfen und wird als Medizinal-Rat Arzt in Grabow, mit dem Königl. Preussischen Kronenorden geehrt. Clementine, Patenkind eines Onkels Neher aus Wallerstein wird später den Arzt Johann Christian Gottlob Fessel heiraten.

 

Inzwischen (1799) war Antonia Rosetti Hofsängerin geworden. Der Herzog unterstützte die Gesangsausbildung der 20jährigen Antonia und ließ sie auswärts, vielleicht in Würzburg, studieren. 1801 widmete ihr der Rudolstädter Kapellmeister Friedrich Methfessel seine drei Gesänge aus Johann Friedrich Schinks „Faust“-Plaisanterie. Der geforderte Stimmumfang dieser Lieder legt den Schluss nahe, dass Antonia eine Mezzosopranistin war. Inzwischen (1803) war Louis Massonneau als Adjunkt Celestinos Leiter der Hofkapelle geworden. Er schrieb vom ersten Augenblick an ein musikalisches Tagebuch: „Verzeichnis Sämtlicher Musikstücke, welche in denen Hof-Concerte, Kirchen etc. aufgeführt worden sind von 1803“, und beginnt mit seiner Ankunft in Ludwigslust am Gründonnerstag 1803 bei angenehmem Sonnenschein. Einen Tag später wurde er von der Herzogin und vom Herzog empfangen und am stillen Samstag, als die Kapelle vermutlich für die Osterkonzerte probte, 9. April „um 16 Uhr im Kirchen Saal der Capelle durch den Schlosshauptmann [Kammerherr Ludwig Hartwig] von Both vorgestellt“. In seinem ersten Konzert-Programm einen Monat später, in der Herzogin Vorzimmer aufgeführt, spielte Madame Westenholtz ein Klavierkonzert von Mozart und die Herren Braun und Brandt interpretierten das Doppelkonzert für Oboe und Fagott  von Massonneau selbst. Für den 13. Dezember 1803 ist notiert: „Concert im goldenen Saal. Ouverture v. Heine. Arie v. …gesung. v. Mad. Lemcke, Waldhorn Concert v. Braun, gespielt v. Hr. Bartheil. Arie v. Righini, gesung. v. Mlle. Rosetti, als sie von Würzburg kam. Concert für 2 Waldhorn v. Rosetti, gespielt v. Hr. Bode u. Bartheil…“

 

Bis 29.8.1806 wird Antonia Rosetti als „Mlle. Rosetti“ geführt, sie unterschreibt am  6. April 1806 mit „Antonia Rosetti, Cammersängerin“; am 25. Dezember 1807 mit „A.Prosch, geb. Rosetti“.

 

Am mittigsten Mittwoch des September 1806 unter klarem Himmel und mit angenehmem Nordwind heiratete Antonia Rosetti, 27 Jahre alt, in Grabow den Witwer, Sekretär im Hofstaat des Erbrpinzen, Christian David Carl Prosch, 41 Jahre alt, und seine 4 Kinder. Helena, die Älteste, damals 6 Jahre, starb schon 1814. Carl, 4 Jahre jung, studierte später Jura, Nationalökonomie und Finanzwirtschaft in Göttingen (Promotion), Rostock, Genf und an der Pariser Sorbonne. Er wurde Regierungsrat in Schwerin und nach der Gründung des deutschen Reiches saß er als Vertreter des Wahlkreises Mecklenburg-Schwerin im Reichstag.  Wilhelmine, damals 3 Jahre, heiratete später ihren Vetter Georg Friedrich Franz Rüst und Eduard, 2 Jahre, studierte nach seinem Abitur am Grauen Kloster in Berlin in Göttingen und Heidelberg (Promotion) Jura und in Göttingen und Paris Kunstgeschichte. Unter der Regierung Großherzog Paul Friedrichs wurde Eduard Prosch Hofrat und stieg bis zum Geheimen Kabinettsrat auf. 1842 beaufsichtigte er die künstlerischen Arbeiten am Schweriner Dom, 1851 wurde er Intendant der großherzoglichen Kunst-Sammlung, die er besonders um Werke mecklenburgischer Künstler erweiterte. Groß wird die Freude bei Antonia und Carl Prosch über ihr erstes gemeinsames Kind Anfang August 1807 gewesen sein, aber Maria Antonia Theresia starb mit 2 ½ Jahren an Keuchhusten. Da hatte sie noch die Verzweiflung der Eltern miterleben müssen, als der Bruder Carl Georg Prosch nach empfangener Nottaufe nur 6 Stunden nach der Geburt am 20. Mai 1809 starb. Aber nicht genug des Elends: Antonia Elisabeth Carolina Rosine wurde am 17. April 1811 geboren und starb 5 Wochen später am Husten. Auch Georg Heinrich Adolph Prosch, geboren am 27. Februar 1816, wurde keine 4 Jahre alt. Was aus dem jüngsten Sohn, Theodor Carl Albert Prosch, geboren Ende April 1815, wurde, ist weder aus den evangelischen, noch aus den katholischen Kirchenbüchern herauszulesen.  Lediglich im Verzeichnis der Volkszählung August 1819 kommt er vor. Darin sehen wir eine unfreiwillige Großfamilie: ab laufende Nummer 268 Carl Prosch…, 269 Antonie Prosch, Hofsängerin, 27 Jahre in Ludwigslust;   

 

270 Sohn: Carl Prosch (Antonies Stiefsohn, 17 Jahre);  271 Tochter: Wilhelmine Prosch (Antonies Stieftochter, 16 Jahre); 272 Sohn: Edward Prosch (Antonies Stiefsohn, 15 Jahre); 273 Sohn: Albert Prosch (Antonies Sohn, 4 Jahre); 274 Clementine Rust, geboren in Grabow, seit 6 Jahren in Ludwigslust (Antonies Nichte, 19 Jahre); 275 Anton Rust (Antonies Neffe, 14 Jahre);

 

276 Wilhelm Rust (Antonies Neffe, 13 Jahre); 277 Adolph Rust (Antonies Neffe, 6 Jahre);

 

278 Amalie Rosetti, 24.9.1790 Wallerstein…, Hofsängerin, 27 Jahre in Ludwigslust.

 

Was für ein Haushalt und was war geschehen? Offensichtlich hatte sich Dr. Carl Rüst bei seiner Tätigkeit als Vorsteher des Militärlazaretts mit einem hochansteckenden Thyphus-Virus, dem sogenannten russisch-polnischen Fleckfieber infiziert und starb Anfang November 1813. Vielleicht haben Antonie und Carl Prosch die Kinder der Familie Rüst sofort zu sich nach Ludwigslust geholt und aufgenommen. Auf den Tag zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes, am 3.Januar 1814, verstarb auch Frau Hofmedicus Rosine Rüst, geborene Rosetti,  in Grabow an Thyphus. Und drei Wochen später starb Carl Proschs älteste Tochter Helena. Welche Verantwortung und welche Arbeit für die Schwestern Hofsängerinnen Antonie und Amalie Rosetti. Beide waren vielbeschäftigte Sängerinnen. Wenn man Massonneau und seinem „Diarium“ glauben darf, hatte die 22jährige  Amalie Rosetti am Pfingstmontag, dem 7. Juni 1813, in der Katholischen Kirche bei der Aufführung der a-Moll Messe von Johann Gottlieb Naumann ihren ersten öffentlichen Auftritt, und sang das Solo des Offertoriums von Massonneau. Der Ludwigsluster Tradition nach wurde in der katholischen Messe, gleich in welcher Mess-Komposition, nach dem Gloria ein Sinfoniesatz musiziert und nach dem Credo ein Offertorium gegeben. Ob Massonneau ganz bewusst zu Amalias erstem Konzert einen Sinfoniesatz ihres Vaters ausgewählt hatte, oder ob der nur ganz besonders gut in Naumanns Messe passte, bleibt sein Geheimnis. Aber, wir erinnern uns, als Antonia zehn Jahre zuvor ihr erstes Konzert sang gab es auch ein Werk des Vaters, ein Konzert für 2 Hörner und Orchester. Und es wird zugleich der erste gemeinsame Auftritt der Schwestern Antonie Prosch und Amalie Rosetti gewesen sein, was die Mutter sicher mit großem Stolz erfüllt hätte, doch war sie  2 Monaten zuvor, am 1. April 1813 im Alter von 57 Jahren an der Schwindsucht gestorben.

 

Für den sehr windigen Donnerstag vor Invocavit des Jahres 1822 notierte Massonneau:   

 

„Den 21. Febr., Concert im Vorzimmer. Sinf. v. Beethoven aus C-Dur. Arie v. … gesung. v. Mlle. Rosetti. Russische Lieder für Violoncell v. B.Romberg, vorgetr. V. Hr. Raudenkolb. Duett aus Alleluja v. Rosetti, gesung. v. Mad. Prosch, Mlle. Rosetti. Ouvertüre v. Sörgel.“

 

„Töne? Worte? Ha, die Liebe tritt auch hier allmächtig ein!“ War es etwas Besonderes für die Schwestern Rosetti dieses Duett aus der „Halleluja“-Kantate ihres Vaters zu singen, 30 Jahre nach dessen Tod? Im Jahr drauf kommt der Meister Rosetti letztmalig bei Massonneau vor:  

 

„Den 18. May, als am ersten Pfingst Fest, den Sontag, in der großen Kirche nach der Predigt, das erste u. letzte Chor aus Rosettis Halleluja“. Wir wissen nicht, ob es wirklich die letzte Aufführung eines Rosettischen Werkes in Ludwigslust war, aber es wäre ein wahrhaft krönender Abschluss gewesen: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“. Lesen wir weiter bei Massonneau über den Gottesdienst am 26. Dezember  1823: Innerhalb der B-Dur Messe von Ignaz Ritter von Seyfried wurde das „Offert. aus der Weihnachts-Nacht für 2 Soprane u. Alto statt Sinf. u. das Offert. v. 2. Weihnachts Tag v. Massonneau. ( Mad. Prosch, Lemcke, Mlle. Rosetti.)“ gegeben. Das war der letzte gemeinsame solistische Auftritt der Schwestern, danach wird Antonia Prosch nicht mehr namentlich genannt.

 

Die Sängernamen auf den Noten legen die Vermutung nahe, dass sie in den Alt wechselte und nur noch die Chorpartien mitsang. Die Staatskalender führen sie bis 1832 als Hofsängerin. Am 19. Oktober 1832 starb sie in Ludwigslust im Alter von 52 Jahren. Ihr Gatte, der Geheime Finanzrat Carl David Prosch überlebte sie um 12 Jahre und starb am 25. Juni 1844 78jährig an einer Lungenentzündung. Ihre Schwester Amalie Rosetti erscheint am 1. November 1833 letztmalig als Solistin in Massonneaus Diarium und es ist wieder die B-Dur Messe von Seyfried und es ist wieder ein Offertorium ihres Konzertmeisters Louis Massonneau. Amalie Rosetti starb am Freitag, den 12. Februar 1836 mit 45 Jahren an der Schwindsucht im verschneiten Ludwigslust.

 

 

 

 

 

Stefan Fischer

 

Schwerin, Februar-März 2016