„die damalige Capelle, die deßwegen vorzüglich war und nicht überall ihresgleichen finden ließ, weil ihre Glieder aus lauter ausgesuchten, jungen, fleißigen, conduisirten und wohl zusammen gespielten Leuten bestand, deren einjeder, von dem wahren Esprit d’Orchestre beseelt, ohne alles privat Intereße stets den Beyfall des Ganzen vor Augen hatte und zur Vollkommenheit deßselben das Seinige nach Vermögen beyzutragen suchte, dahero aber auch manche weit zahlreichere, kostbarer besoldete weit hintersich lies, wenn sie sich in Bewegung setzte und höhrbar wurde. Aus diesem Grunde mußte sie dem wahren Kenner umso schätzbarer seyn, weil es gemeiniglich sehr schwer hält, einer ganzen Capelle den wahren Esprit d’Orchestre einzuflösen.“

Johann Wilhelm Hertel, 1783

Ludwigsluster Klassik

Der Ort des Geschehens wird festgelegt:

„Mecklenburgische Nachrichten/ Fragen und Anzeigungen. Schwerin, den 24ten August 1754“:
„Am Mittwoch erhuben sich Ihro Herzogl. Durchl. Unser gnädigster Landesherr, mit der ganzen Fürstlichen Familie und dem grössesten Theil Dero Hofstaat nach Kleinow, und befohlen an selbigem Tage, dass ersagter Ort von nun an und für die Zukunft Ludwigs=Lust genannt werden solle.“

 

„Hof- und Capell-Componist“ (mit Kapellmeisterpflichten) Johann Wilhelm Hertel besuchte im Februar 1767 seine 86jährige Mutter und die Familie seiner Schwester (sein Schwager Markus Heinrich Graul war Cellist der Königlichen Kapelle in Berlin). Trotz einiger sehr guter Angebote verließ er das „schöne, doch Geräuschvolle Berlin“ wieder, um in „sein stilles, halbes Land-Leben“ nach Schwerin zurückzukehren und erzählt selbst in seiner Autobiographie:

„Kurz nach seiner (Hertel schreibt über sich selbst immer in der dritten Person) Rückreise, die er im April noch halbunpäßlich unternahm, geruheten der Durchlauchtigste Herzog die Capelle von Schwerin weg und nach Ludewigslust zu nehmen. Er ward bey dieser Gelegenheit seiner Dienste in Gnaden entlaßen u. blieb von nun an einzig und allein in Schwerin in den Diensten seiner Fürstin (als Hofrat der Prinzessin Ulrike). Das entzogene Vergnügen der Capelle veranlaßte die sämtliche appanagirte Herrschaft zu Schwerin unter seiner Direcktion Conzerte veranstalten zu laßen und er genoß das Glück, die Durchl. Prinzeßin L u d e w i g im Singen, Höchstderoselben Prinzeßin Tochter aber, der jetzigen Cron-Prinzeßin von Dännemark, Sophie Friederike beydes im Singen und Clavier zu unterweißen. Seine compositorische Muse aber ward jetzt unthätig; doch sein vormaliger Brodt-Herr (Herzog Friedrich) wußte unsern Mann bald wieder in das gehörige Feuer zusetzen, indem Höchstdieselben ihn gnädigst auftrugen, die jenigen geistlichen Stücke von Zeit zu Zeit zu setzen, die wir hernach unten nahmhaft machen werden (Werkeverzeichnis), und deren zu veranstaltende Aufführung verursachte, daß er sich nunmehro auch von Zeit zu Zeit nach Ludewigslust verfügen mußte.“

 

Ob das Vergnügen wirklich auf Seiten der nach Ludwigslust verlegten Hofkapelle war, ist stark zu bezweifeln, denn die Musiker hatten in Ludwigslust noch gar keine Unterkunft, sondern mussten täglich von Grabow aus zum Dienst fahren/reiten/laufen.

 

Zwischen beiden Zitaten liegen 13 Jahre und ein Regierungswechsel, sowie ein furchtbarer Krieg mit tausenden mecklenburgischen Toten, zerstörten Dörfern und Städten, hungernden Menschen, Krankheit und Not.

 

1756 war Herzog Christian Ludwig II., dem zu Ehren Ludwigslust Ludwigslust heißt, verstorben und sein Sohn Friedrich übernahm die Regierung, geriet aber sofort unverschuldet in den Siebenjährigen Krieg hinein. Exil für ihn und Elend fürs Volk bluteten das Land langsam aus.

Bei Archenholtz, dem damaligen Chronisten des Krieges, lesen wir über das Jahr 1759: „Ein anderes Corps Preußen fiel in Mecklenburg ein...Keine von allen Provinzen, wo die Preußen ihre feindlichen Fahnen wehen ließen, wurde von ihnen so grausam behandelt, als dies von dem geflüchteten Regenten ihnen überlassene Herzogthum Mecklenburg=Schwerin, aus welchem die Menschen zu Hunderten Städte und Dörfer verließen...Man zerstörte, was man nicht fortbringen konnte; selbst die Betten der armen Einwohner wurden aufgeschnitten, die Federn in die Luft gestreut, und den Winden übergeben.“

 

Herzog Friedrich, später genannt „der Fromme“, hatte eine Vision.

Als Vordenker des Gesamtkunstwerks Ludwigslust versammelt er Künstler und Handwerker, Architekten und Gartenbauingenieure um sich. Letztendlich entsteht inmitten der lieblichen Grieser Gegend eine pietistische Idylle abseits des schnellen und lauten Lebens, etwas ganz Besonderes, Unverwechselbares, ein abgeschlossener Kosmos, eine Inselkunst, eine Art Sonderwelt. „Ihr Land ist eine wahre Utopie“ schrieb der französische Geiger Alexandre Stievenard, seit 1801 in Ludwigslust engagiert, an Herzog Friedrich Franz I.

Wilhelm Hertels Einschätzung des Herzogs Friedrich liest sich liebdienerisch, doch muss man davon ausgehen, dass er nicht übertrieb, bedenkt man, welche universalen Ideen Friedrich umtrieben und welche spezielle Liebe zu Uhren und deren Mechanik er z. Bsp. pflegte:

„Höchstdeßelben tiefe Einsicht in alle Künste und Wißenschaften, besonders in die Musik, versprach derselben um so mehr die glänzendste Epoque als Sr: Durchlaucht der Herzog von Jugend auf das Clavier gespielet und meisterhaft accompagnirten…“

 

Nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges und der Beseitigung der schlimmsten Kriegsschäden wird auf der grünen Wiese neben dem Dörfchen Kleenow gebaut.

Das erste neugeschaffene große Bauwerk Ludwigslusts ist die Kirche (Bauzeit 1765-70), das letzte große Bauwerk wird das Schloss sein (Bauzeit 1772-76).

Schon damit setzt Herzog Friedrich Akzente. Die Kirche wurde von ihm neben dem gottesdienstlichen Gebrauch von vornherein als Konzertkirche geplant.

Mit den öffentlichen geistlichen Konzerten, „Concert Spirituel“, sommers in der Kirche und winters im Schloss, aber auch da frei zugänglich für Jedermann, wollte Herzog Friedrich sein Volk missionieren.

Das 18. Jahrhundert hindurch galt eine allgemeine Dreiteilung der Musik. An erster und wichtigster Stelle stand die Kirchenmusik. Noch 1800 wurde ihr in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung die „Krone“ der Musik zugeschrieben. Als Zweites kam die Kammermusik, die Sinfonien und Konzerte einschloss und an dritter Stelle stand die Opernmusik, incl. Schauspielmusiken und Ballettmusiken.

Der „musikalische Pabst Quantz“ (AMZ vom August 1801) in seinem epochalen Lehrwerk „Versuch einer Anweisung die Flute traversiere zu spielen“, 1752:

„Ueberhaupt wird zur Kirchenmusik, sie möge bestehen worinn sie wolle, eine ernsthafte und andächtige Art der Composition, und der Ausführung, erfodert. Sie muss vom Opernstyle sehr unterschieden seyn…Hier hat der Componist Gelegenheit, seine Stärke sowohl in der sogenannten arbeitsamen, als in der rührenden und einnehmenden Schreibart, (diese ist aber der höchste Grad der musikalischen Wissenschaft,) zu zeigen.“

Die Kirchenmusik wurde langsamer musiziert als die anderen, weltlichen Musikformen. Quantz gibt als Mittelwert einen Puls von 72+- MM an, im Gegensatz zu den „weltlichen“ MM 80+-. Das Choraltempo in den Kompositionen des 18. Jahrhunderts entsprach dem einfachen Choralgesang in den Gottesdiensten.

Dazu Daniel Gottlob Türk in „von den wichtigsten Pflichten eines Organisten“, Halle, 1787: „Im Ganzen genommen erfordert der Choral (…) eine langsame und feyerliche Bewegung; indessen verträgt er, wegen der verschiedenen Empfindungen, allerdings in dieser Rücksicht eine kleine Abänderung; denn billig sollten Buß= und Trauerlieder etc. noch langsamer und rührender gespielt werden, als solche, worin der Inhalt freudig und munter ist. Aber geschwind darf der Choral nie vorgetragen werden; denn er verliert seine ganze Würde, sobald man eine nur etwas hurtige Bewegung nimmt. Auch hier muß der Organist bedenken, wo er spielt ? und an wen die Gesänge gerichtet sind.“

Heutzutage ist zu beobachten, dass mit der allgemeinen Säkularisierung auch eine Säkularisierung der Kirchenmusik verbunden ist. Das Tempo der Kirchenmusik wurde mit der Begründung der Vermeidung von Langeweile an das Tempo der weltlichen Musik angeglichen. Um den intellektuellen Zusammenhang der Choraltexte erfassen zu können wurde das Choraltempo in Gottesdienst und Kirchenmusikaufführungen bis aufs Dreifache erhöht.

 

Herzog Friedrichs wichtigstes „Missions-Instrument“ war der Choral.

Der lutherische Choral als prägendstes Geschenk der Reformation ist der Mittelpunkt der evangelischen Kirchenmusik, natürlich auch im protestantischen Land Mecklenburg. Wilhelm Hertel schreibt in seiner Autobiographie : „Und da Höchst Dieselben [Herzog Friedrich] die tiefste Einsicht in die Werke der Musik schon lange vorzüglichst zum Liebhaber der geistlichen Musik gemacht hatte, in welcher allerdings das wahre Erhabene und Gelehrte der ganzen Harmonie zu suchen u. zufinden ist, so musste nun unser H. die erste Probe mit dem geistvollen, herrlichen Choral: Ist Gott für mich so trete usw. nach dem Plan machen, nach welchem ein solches Lied ein ganzes vollständiges Sing-Stück wird und wozu Höchst Sie dem ehemaligen Capell-Meister Kunzen zu verfertigen derselben zuerst die noch nie vorher bekannt gewesene Idee an die Hand gaben. Da er fand, daß ein so bearbeitetes Lied beynahe alle andere Sing-Stücke, wenigstens was die innere Rührung des Herzens betrifft, weit hinter sich läßt,…“

 

Herzog Friedrich hatte ein Ziel und brauchte dafür die vornehmste Art der Musik, die Kirchenmusik. Und er brauchte einen Komponisten, der unbedingt die herzoglichen Vorgaben erfüllte und fand ihn in Carl Westenholtz.

Nach Hertels Entlassung aus dem Kapellmeisteramt setzte Herzog Friedrich auf die kapell-interne Lösung, denn Carl Westenholtz hatte bereits eine 18jährige Geschichte innerhalb der Mecklenburg-Schwerinschen Hofkapelle als Kapellknabe und Tenor hinter sich.

 

Sicher waren Herzog Friedrich die norddeutschen Vorbilder nicht unbekannt, Reincken, Buxtehude oder Telemann, mit dem er sogar bekannt war. Sein „besonderes Wohlgefallen“, wie Hertel schrieb, hatte Herzog Friedrich allerdings an „den Stücken des Pergolesi und Jomelli“. Beides mußte Carl Westenholtz unter einen Hut bringen und schuf ganz Eigenes.

Carl Westenholtz wurde als Organistensohn 1736 in Lauenburg/Elbe geboren. Nach seiner Schulausbildung in Lübeck wurde er Kapellknabe der Mecklenburg=Schwerinschen Hofkapelle und Schüler von Hofkapellmeister Adolph Carl Kuntzen im Gesang, Komposition und Cembalospiel, sowie von Franz Xaver Woschitka auf dem Cello. Einer Anstellung in der Hofkapelle als Tenor folgt 1767 mit der Übersiedlung des Ensembles nach Ludwigslust die Berufung zum Konzertmeister. Ab 1770 ist Carl Westenholtz der erste Hofkapellmeister in Ludwigslust und führt die Kapelle zu hoher Achtung und Anerkennung in Deutschland. Sein kompositorisches Werk, das größtenteils zwischen 1767 und 76 entstand umfasst ein riesiges Vokalwerk von 70 Kantaten (34 Choralkantaten, 13 Psalmkantaten, 20 weltliche Kantaten und 3 Serenaten) und 11 Arien und Duetten, sowie einigen Liedern, aber nur ein sehr schmales Instrumentalwerk (1 Cembalokonzert, 1 Violoncellokonzert, je 2 Werke für Cembalo solo, bzw. mit Begleitung der Violine und einige Tanzsätze).

Ganz anders bei Wilhelm Hertel. Von ihm sind uns neben 39 Kantaten und zahlreichen Arien und Liedern mindestens 36 Sinfonien, mindestens 45 Solo-Konzerte für verschiedene Instrumente und auch viel Kammermusik überliefert. Hertel stammte aus einer Musikerfamilie und wurde in Eisenach geboren. Sein Vater war der Konzertmeister Johann Christian Hertel, der auch als einer der letzten hervorragenden Gambisten galt. Hertel erhielt ersten Unterricht vom Vater und von dem Sebastian-Bach-Schüler Heil und wuchs so in die bachsche Tradition, vor allem des Cembalospiels, hinein. Die Geige lernte er bei Konzertmeister Carl Höckh in Zerbst, wo er auch in der Hofkapelle unter der Leitung von Fasch mitspielen durfte. Nach dem Arbeitsstellenwechsel seines Vaters Christian nach Neustrelitz studierte Hertel in Berlin bei Franz Benda und genoss den Umgang mit den berühmten Musikern der Berlinschen Schule. Dort erkannte man sein Talent für die Vokalmusik und riet ihm, sich auf die Kantatenkomposition zu spezialisieren. Hertel vertrat seinen kranken Vater als Konzert- und Kapellmeister in Neustrelitz und schuf dort in erster Linie Konzerte und Sinfonien. Nach der Auflösung der Neustrelitzer Hofkapelle konnte Hertel als Hofkomponist und Kapellmeister in der Nachfolge Adolph Carl Kuntzens nach Schwerin wechseln. Seine letzten Lebensjahre waren durch die Scheidung und seine Krankheit, sowie seine große Liebe zu Blumen und seine Nelkenzüchtungen geprägt. Er starb im Juni 1789 in Schwerin, ein halbes Jahr nach Carl Westenholtz‘ Tod am 24. Januar 1789 in Ludwigslust. Westenholtz hinterließ aus zweiter Ehe seine überaus begabte und berühmte Frau Sophie und 9 Kinder, die zum Teil auch Musiker wurden. Mit seiner direkten Nachfolge wurde der Konzertmeister Eligio Celestino betraut, bevor im Juli 1789 Antonio Rosetti das Amt des Hofkapellmeisters übernahm. Ebenfalls im Sommer 89 wurde auch der bekannte Virtuose Johannes Matthias Sperger als Erster Kontrabassist in die Hofkapelle engagiert.

 

Die Ludwigsluster Kirche ist so gebaut, dass die Musiker unsichtbar bleiben, die oberste Empore ist der Musik vorbehalten, die Akustik in beeindruckender Weise darauf ausgerichtet, dass der Klang die ganze Kirche ausfüllt. Man glaubte damals, die Musik käme hinter dem Altarbild hervor. Der Blick auf den Altar und das allegorische Riesengemälde bestimmen den äußeren Eindruck beim Konzert. Die Verkündigung an die Hirten, das ewige Weihnachten, die immerwährende Geburt des HERRN als Hoffnung, nicht das Kreuz und der Tod, neues Leben in der neuen Stadt Ludwigslust. Die Musik wird da als Klangbühne und Raumklang gleichzeitig Architektur. Die Künste vereinen sich zum Theatrum Sacrum. Die Abwesenheit von Performance, wie wir heute sagen, also sichtbare und agierende Musiker, oder Pfarrer im Talar am Altar, braucht das Zusammenwirken von Bild und Musik im Zuhörer. Die Musik rührt ihn an, auf der Suche nach einem „Ort“ im tiefsten Inneren, wo der Dialog mit GOTT entsteht. Und was ist besser geeignet, als Choräle. Jeder kannte sie, sie sind bereits im Inneren angekommen, das Gebet, das Gespräch mit GOTT. Es ist der wahre Geist der heiligen Musik.

Die erste Bewährungsprobe für die Kantatenkunst des Carl Westenholtz war die Kirchen-Einweihungs-Musik für die Neue Kirche zu Ludwigslust und wir stehen staunend vor insgesamt 9 Kantaten zu ungefähr 5 Stunden Musik, aufgeführt am 3., 4. und 5. November 1770. Erstmalig finden wir die zukünftige Mecklenburg-spezifische Dreiteiligkeit der Kantatenzyklen vor: Zwei Choralkantaten rahmen eine Psalm-Kantate, oder Kantate über anderen Bibeltext ein. So beginnt der erste Abend mit dem Choral „Herr Jesu, Licht der Heiden“ von Johann Franck zu Mariä Reinigung, der Darstellung des Herrn, und das werden die ersten Töne und Worte in der neuen Kirche gewesen sein. „Herr Jesu, Licht der Heiden, der Frommen Schatz und Lieb ! Wir kommen jetzt mit Freuden durch deines Geistes Trieb in diesen deinen Tempel und suchen mit Begier nach Simeons Exempel dich großen Gott allhier.“ Die mittlere Kantate beginnt folgerichtig, auch wenn das Altarbild noch gar nicht gemalt war, und rezitativisch: Der Engel sprach dort von dem Herrn, dem dieses Haus gewidmet ist: Solo Sopran Fürchtet euch nicht, siehe ich verkündige euch große Freude (Lukas 2, 10/11), um dann nach dem Chor Ehre sei Gott über das Rezitativ Gott spricht durch Jesaiam zu Jesaja 52, 13-15 und dem gesamten 53. Kapitel zu kommen, Stichwort: Fürwahr, er trug unsere Krankheit. Alles auf einmal könnte man sagen, oder besser: umfassende Predigt.

 

Doch Herzog Friedrich wollte noch Größeres und konzipierte die später berühmten „westenholtzschen Musiken“. Unter dem lapidaren Titel „Verschiedene Texte, welche auf höchsten und gnädigsten Befehl in Musick gesetzet worden“ entstehen 12 Teile zu je drei Kantaten; welche Symbolik: die Zwölf ist die Totalität des Räumlichen, Zeitlichen, Geistigen und Körperlichen, die 12 Monate, die zwölf Stämme Israel, die zwölf Apostel, die visionäre Stadt der Apokalypse mit den 12 Toren, den 12 Engeln, den 12 Grundsteinen aus 12 Edelsteinen, die Symbolzahl des geschlossenen Kreises, der Gesamttag mit seinen 12 Tagstunden und 12 Nachstunden – die Uhr! (und Friedrichs Leidenschaft) – . Es ist die umfassendste musikalische Predigt der pietistischen Theologie. Wenn Sebastian Bach als der 5. Evangelist bezeichnet wird, kann man das 36 Kantaten umfassende mecklenburgische Wunderwerk von Herzog Friedrich und seinem Komponisten und Kapellmeister Carl Westenholtz als das sechste und zusammenfassende Evangelium des Glaubens bezeichnen. Wir haben es hier mit über 18 Stunden Musik zu tun. Doch wie können wir das so genau wissen ?

Herzog Friedrich, der Uhrennarr, schrieb sich in seine Textbücher die Aufführungszeiten vieler Kantaten hinein. Die große Deckenuhr der Kirche, übrigens das erste fertige Interieur beim Neubau, kann nur von dem Platz des Herzogs in der Fürstenloge in voller Schönheit gesehen werden. Friedrichs Zeitangaben sind teilweise sehr detailliert, gibt er bei manchem Choral doch sogar die Zeiten für die einzelnen Verse an. Da die Kantaten ohne jeden Wortbeitrag in den „Concert Spirituel“ musiziert wurden, die mittwochs und sonntags außerhalb der Gottesdienste zwischen 6 und 8 Uhr abends stattfanden, kann man anhand der Angaben Herzog Friedrichs die genauen Metronomzahlen für die einzelnen Musikstücke errechnen. Daraus ergibt sich, dass Quantzens Temposystem des Pulsschlages zu mindestens 95 % zutrifft. Auch alle anderen bekannten Tempoangaben dieser Zeit, die den Kirchenstil betreffen, decken sich mit den Ludwigsluster Kantatenzeiten. Die Musikwissenschaft hat Herzog Friedrichs Bleistifteintragungen inzwischen sanktioniert.

Die westenholtzschen und hertelschen Choralkantaten sind der einzige einzigartige mecklenburgische Beitrag zur europäischen Musikgeschichte.

 

Ludwigslust war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Zentrum der deutschen evangelischen Kirchenmusik. Johann Abraham Peter Schulz schrieb 1786 von „Mecklenburgs beglücktem Ludwigslust“, „wo großer Geschmack herrscht, und wo insonderheit die religiöse Musik ihren berühmtesten Wohnsitz hat…“. Vom bedeutenden Gelehrten Prof. Carl Friedrich Cramer aus Kiel lesen wir in dessen „Magazin der Musik“ des Jahres 1783 über Ludwigslust:

„Schwerlich, mein Bester, werden Sie an irgend einem deutschen Hofe bessere geistliche Musiken so vollständig hören als hier.“

 

Als Ergebnis sei festgehalten,

und bei Anton Saal, Bratscher und Harfenist unter Westenholtz, Celestino und Rosetti nachgelesen :

„…Ob nun gleich von der Kapelle in Ludwigslust seit den Zeiten des Höchstseeligen Herzogs Friedrich ein Beweis von der höchsten Kultur des Gesanges, und zugleich ein Muster zur Nachahmung gegeben wurde; so hat dieser Umstand dessen ungeachtet nicht den wohl zu erwartenden Einfluß auf unser Land gehabt, daß der Gesang allgemein kultiviert, und kunstmäßig gelehrt worden ist.“  

 

In Gerbers Lexicon der Tonkünstler, 1792, steht: „...Er (Hertel) gehörte seit der Mitte dieses Jahrhunderts zu unseren geschmackvollsten Komponisten, sowohl was die Instrumental= als Vokalmusik anlangt...

...Aber seine (und hier kann man getrost auch Westenholtz einschließen) beträchtlichsten Kompositionen an Singstücken für seinen Hof sind für das Publikum unbekannt geblieben...“

 

 

Stefan Fischer, 2013